Die Gesetzessystematik der englischen Privatinsolvenz

Mit Beginn des 18. Jahrhundert setzte sich in England das heutige Verständnis der discharge (Entschuldung) durch, wonach der Schuldner sich unter bestimmten Umständen. als würdig erweisen konnte, eine Schuldbefreiung zu erlangen. Die wichtigsten Quellen der discharge bestehen aus dem Bankruptcy Act von 1914 und dem Insolvency. Act von 1976. Beide Gesetze wurden später von dem Insolvency Act von 1986 abgelöst.

Der Insolvency Act 1986 gilt in England und Wales. Schottland und Nordirland sind ausgenommen, obwohl sect. 440, 441 1A die Regeln des IA auch auf diese Regionen ausweitet.

Im Juli 2001 wurde im englischen Parlament ein Diskussionsentwurf zur Gesetzessystematik der Privatinsolvenz eingereicht (= White Paper). Das White Paper enthielt wesentliche Änderungen zur Restschuldbefreiung. Die negativen sozialen Effekte einer Insolvenz sollten vermieden werden.

Ziel war eine verbesserte Wiedereingliederung von Schuldnern in das Wirtschaftsleben. Nach Auffassung der Autoren des White Paper hielt das herkömmliche Recht zu viele Personen davon ab, erneut unternehmerisch tätig zu werden, nachdem sie mit einem Unternehmen gescheitert waren. Dies sei gesamtwirtschaftlich nachteilig, weil ein gewisses Maß an risikobereitem Entrepreneurship die ökonomische Entwicklung in Gang halte. Wörtlich:

Our fresh start proposals for personal bankrupty are based on the recognition that honest failure is an inviatable part of dynamic market economy.

Zentrales Anliegen des White Paper war die Absenkung der Frist bis zur ersten Schuldbefreiung von drei Jahren auf zwölf Monate und bis zur zweiten Schuldbefreiung bereits nach fünf Jahren. Eine Ausnahme sollte nur für Schuldner gelten, die gegen ihre Obliegenheiten gem. Abschnitt IX des Insolvency Act 1986 verstoßen.

Zum Schutz des Wirtschaftsverkehrs sah das White Paper ein System von Beschränkungen während der Insolvenz natürlicher Personen vor. Danach konnte der Treuhänder bei Gericht sog. Bankruptcy restriction Orders beantragen, wenn dem Schuldner ein finanzielles Fehlverhalten vorzuwerfen war. Die Orders konnten eine Dauer von zwei bis 15 Jahren haben und orientieren sich an den Art. 6 bis 9 des Company Directors Disqualifcation Act 1986.

Gegen das White Paper regte sich vor allem im Hinblick auf die Entschuldungsphase erheblicher Widerstand: Während die Maßnahmen zur Verminderung des Stigmas der Insolvenz privater Personen begrüßt wurden, wurde die Herabsenkung der Entschuldungsphase sehr kritisch gesehen. Hauptsächlich wurde dagegen eingewendet, dass ein Schuldner bei einer derartig kurzen Frist bis zur discharge keinen Anreiz mehr sähe, seine Gläubiger vollständig zu befriedigen. Zudem wurde eine Amerikanisierung des Insolvenzrechts befürchtet.

Dennoch ist das White Paper im März 2004 in Kraft getreten. Der Enterprise Act versucht einen Kompromiss zwischen einer großzügigen Behandlung redlicher Schuldner, die „unverschuldet“ in die Insolvenz geraten sind und deshalb eine schnelle discharge erwarten dürfen und zwischen den unredlichen Schuldnern, deren Entschuldung mit gerichtlich angeordneten „Bankruptcy Restriction Orders“ eingeschränkt werden darf.

Die wichtigste Veränderung nach dem Enterprise Act 2002 betrifft die discharge Periode. Die discharge findet automatisch nach zwölf Monaten statt, wobei in der Mehrzahl der Fälle die discharge früher eintritt.

Der Anwendungsbereich der automatic discharge umfasst jetzt auch wiederholte Bankrotteure; nur „criminal bankrupts“ erhalten eine discharge nicht durch bloßen Zeitablauf.

Im Enterprise Act 2002 ist neu, dass der Official Receiver nicht mehr jeden Fall einzeln untersuchen muss, sondern nach seinem Ermessen einzelne Fälle heraussuchen kann.

Englisches insolvenzrecht verfolgt im Gegensatz zum kontinentaleuropäischen Insolvenzrecht schon immer eine doppelte Zielsetzung. Neben der Gesamtvollstreckung mit gleichmäßiger Gläubigerbefriedigung möchte das englische Insolvenzrecht den ehrlichen aber glücklosen Schuldner (honest but unfortunate) schützen und ihm einen fresh start ermöglichen. Die beiden Ziele sollen erreicht werden, mit der Aufteilung in ein gerichtliches Schuldbefreiungsverfahren und ein außergerichtliches Masseverwertungsverfahren. Weil die Verfahren voneinander unabhängig sind, kann das Masseverwertungsverfahren auch dann noch fortgesetzt werden, nachdem das Schuldbefreiungsverfahren bereits abgeschlossen ist.

Die Abweisung des Insolvenzverfahrens mangels Masse nur ausnahmsweise möglich, um den wirtschaftlichen Neubeginn des Schuldners nicht unnötig zu erschweren.

Betroffener Personenkreis

Der Insolvency Act beinhaltet sowohl Vorschriften der Unternehmensinsolvenz als auch der Verbraucherinsolvenz und wendet sich sowohl an Kaufleute als auch an Nichtkaufleute sowie Gesellschafter von Personenhandelsgesellschaften. Das englische Recht kennt bei Personenhandelsgesellschaften ferner die Insolvenz einzelner oder aller Gesellschafter ohne eine Gesellschaftsinsolvenz oder einer Parallelinsolvenz von Gesellschaft und Gesellschafter.

Bei der Insolvenz von Kapitalgesellschaften sieht das englische Gesellschaftsrecht deren Liquidation vor. Das Problem der Restschuldbefreiung besteht hier nicht, weil wegen der Auflösung eine nachinsolvenzliche Haftung ausgeschlossen ist. Ferner nennt der Enterprise Act 2002 diverse Reorganisations- bzw. Fortführungsverfahren, wie dem Sedule of arrangement (sect. 425 Companies Act) und dem company voluntary arrangement zur Insolvenzvermeidung Nicht von einer Schuldbefreiung betroffen werden Mitschuldner, Bürgen oder sonstige Sicherungsgeber des Schuldners.

Formen der Schuldbefreiung im englischen Insolvenzrecht

Um seine finanzielle Situation zu ordnen, kann der englische Schuldner neben dem Insolvenzverfahren unter drei weiteren Verfahren auswählen:

1. Deed of arrangement

Zur Vermeidung der Insolvenz kann der Schuldner einen Vergleich mit dem Gläubiger schließen und sein verwertbares Eigentum auf einen trustee übertragen (deed of arrangement), der das Eigentum dann im Namen der Gläubiger verwertet.

Rechtsgrundlage ist der Deed of Arrangement Act von 1914. Ein solcher Vergleich hat Vertragscharakter und ist vollstreckbar. Kommt der Schuldner den Vertragspflichten nach überträgt er sein Eigentum auf einen trustee, tritt bezüglich der anderen Schulden eine Befreiung ein. Die deed of arrangement kommt in der Praxis nur noch selten vor.

2. Individual Voluntary Arrangement

Eine zweite Möglichkeit zur Entschuldung bietet das individual voluntary arrangement nach Teil VIII sections 252 ff IA. Das IVA gibt es in zwei Arten (composition and sheme of arrangement). In beiden Fällen soll die Insolvenz abgewendet und eine privatautonome Schuldenregulierung herbeigeführt werden.

Die composition entspricht dem gerichtlichen Schuldbereinigungsverfahren in Deutschland und ist eine rechtsverbindliche Vereinbarung zwischen Gläubigern und Schuldner: Der Schuldner verpflichtet sich zur Zahlung eines Teilbetrages, die Gläubiger verzichten auf die restliche Forderung. Der Schuldner behält seine Verwaltungs- und Verfügungsrechte.

Die sheme of arrangement besteht ebenfalls aus einem Teilzahlungsvergleich. Zusätzlich überträgt der Schuldner Teile seines Eigentum auf einen trustee, der diese dann zugunsten der Gläubiger verwertet.

Sobald ein IVA vereinbart worden ist, kann der Schuldner eine Einstweilige Verfügung (interim order) beantragen, um ein Insolvenzverfahren gegen ihn zu stoppen (sect. 232 (2) (a) IA). Der IVA verhindert zudem jede Einzelzwangsvollstreckung oder gerichtliche Geltendmachung von Gläubigeransprüchen (sect, 252 (2) (b) IA). Der IVA bindet gem. sect. 260 subsect. 2 (b) IA auch die Gläubiger, die dem Vergleich, nicht zugestimmt haben.

Der IVA ist in England der beliebteste Weg zur Entschuldung, obwohl das Insolvenzverfahren den Schuldner weitaus billiger kommt.

3. County Court Administration Order

Als dritte Möglichkeit der Schuldbefreiung gibt es die County Court Administration Order. Sie gilt nur für Verfahren bis 5.000 GBP.

4. Discharge und Insolvenzverfahren

Das englische Insolvenzverfahren für Privatpersonen umfasst Kaufleute und Nichtkaufleute.

Die Insolvenz für (nicht rechtsfähige) Partnerschaften – partnerships – unterliegt den eigenständigen Regelungen der insolvent partnership order von 1986. Danach kann eine partnership wie eine nicht eingetragene Gesellschaft. nach Teil V des IA abgewickelt werden. Denkbar ist aber auch die Insolvenz einzelner oder aller Gesellschafter ohne Gesellschaftsinsolvenz oder die gleichzeitige Insolvenz von Gesellschaft und (einzelnen) Gesellschaftern. Im Falle der Gesellschafter-Insolvenz steht den Gesellschaftern Restschuldbefreiung nach den generellen Insolvenzvorschriften zu, frühestens jedoch nach drei Jahren ab Auflösung der Gesellschaft. Eine summary administration nach section 275 IA mit zweijähriger discharge-Frist gem. section 279 (2) (a) IA ist nicht möglich (Insolvent Partnership Order 1986, Sch. 2, Part 111).

Das Insolvenzverfahren wird auf Antrag eröffnet. Dieser Antrag kann gem. sect. 267 IA als Gläubigerantrag oder nach sect. 272.IA als Schuldnerantrag gestellt werden. Gem. section 264 IA darf auch der Treuhänder eines IVA einen Antrag stellen, nachdem der IVA gescheitert ist. Eröffnungsvoraussetzung ist nach § 272 (1) IA das Unvermögen des Schuldners, seine Schulden zu bezahlen (inability to pay his debts). Ein Gläubigerantrag setzt voraus, dass dieser erfolglos gemahnt oder vollstreckt hat.

Der Schuldner muss seine finanzielle Situation schriftlich darlegen und nachweisen, dass er zahlungsunfähig ist, Er muss einen Gerichtskostenvorschuss von 700 GBP einzahlen. In Härtefällen kann der Vorschuss erlassen werden. Ob das Verfahren eröffnet wird oder nicht, steht im Ermessen des Gerichts (sect. 274 (2) IA).

Ein Insolvenzverfahren darf nicht eröffnet werden, wenn die ungesicherten Forderungen die Höhe von derzeit 20.000 £ unterschreiten (sect. 273 (1) (a) IA). Für diese Fälle ist ein vereinfachtes Verfahren (summary administration) vorgesehen. Das summary administration Verfahren ist um ein vielfaches einfacher, als das Insolvenzverfahren.

Das Insolvenzverfahren wird eröffnet, nachdem das Gericht den. Insolvenzantrag verhandelt hat (sect. 278 (a) IA). Von diesem Zeitpunkt an ist der Schuldner ein „undischarged bankrupt“. Er ist vor der Rechtsverfolgung der Gläubiger geschützt (sect. 285 subsect. 3 (a) und (b) 1A). Die Gläubiger dürfen nur Kreditsicherheiten verwerten (sect. 285 subsect. 4 IA).

Im englischen Insolvenzrecht gibt es zwei Rechtsgründe, die ein Insolvenzverfahren beenden: Die automatisch nach 12 Monaten eintretende Schuldbefreiung (automatic discharge) und der Aufhebungsbeschluss des Insolvenzgerichts (sect. 280 (2) (a) IA).

Tritt die discharge wie zum Beispiel bei einem zweiten Insolvenzverfahren (second bankruptcy, sect. 334, 335 IA) nicht automatisch ein und erlässt das Gericht keinen Aufhebungsbeschluss, so kann es dem Schuldner passieren, dass er sich jahrelang in der Insolvenz (= undischarged bankrupt) befindet. Für den Schuldner heißt dass, dass sein Insolvenzzustand nicht beendet wird. Die zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Beschränkungen, die laufend entstehenden Kosten und die höhere Strafbarkeitsgefahr bleibt damit über Jahre bestehen.

Discharge und Rechtsfolgen der Erteilung

Die discharge beendet das Insolvenzverfahren. Zu unterscheiden ist einerseits zwischen der automatic discharge, sect. 279 IA, die automatisch und bedingungslos nach Ablauf von 12 Monaten eintritt. Andererseits gibt es die discharge by court order, sect. 280 IA, also eine Schuldbefreiung per Gerichtsbeschluss. Die discharge by court order ergeht als Ermessensentscheidung auf Antrag des Schuldners.

Automatic discharge

Die automatic discharge soll den Schuldnern zugute kommen, die zum ersten Mal insolvent sind (first-time-bankrupt). Gemäß dem Enterprise Act 2002 wird die automatic discharge sehr großzügig gewährt. Eine Ausnahme gilt nur für die Fälle einer criminal bankruptcy (sect. 279 (2) IA). Die discharge erlangt der Schuldner dabei ohne sein Zutun. Es ist nicht notwendig, dass er einen entsprechenden Antrag stellt. Soweit ein Schuldner bestimmte Schulden trotzdem zu begleichen möchte, z. B. weil er auf den Gläubiger angewiesen ist, kann er mit einem reaffimation arrangement seine Verbindlichkeiten wieder aufleben zu lassen.

Die Restschuldbefreiung mittels automatic discharge erhält der Schuldner allein durch Zeitablauf und ohne zusätzliche Voraussetzungen (sect. 279 IA). Üblicherweise beträgt die Wartefrist zwölf Monate. Der official receiver kann diese Frist verkürzen, wenn der die Unbedenklichkeit erklärt (sect. 279 (2) lA).

Trotz der grundsätzlich bedingungslos und automatisch eintretenden Schuldbefreiung kann das Gericht dennoch auf Antrag des official receiver die Frist verlängern oder dem Schuldner bestimmte Auflagen erteilen, die zur Erlangung der Restschuldbefreiung erfüllt werden müssen (sect. 279 (3) IA). Zu diesen Mitteln wird häufig dann gegriffen, wenn der Schuldner den ihm auferlegten Obliegenheiten nicht nachkommt.

Zu den Auflagen während des Insolvenzverfahrens gehört auch die income payment order, um zukünftiges Einkommen des Schuldners zugunsten der Gläubiger zu verwerten. Die income payment order wird für maximal drei Jahre erlassen und ist über den Eintritt der Schuldbefreiung hinaus wirksam (sect. 310 (6) (b) IA). Kommt der Schuldner den auferlegten Pflichten nicht nach, kann das Gericht die discharge widerrufen.

Discharge by order of court

Nach dem Enterprise Act 2002 steht nun auch wiederholten Bankrotteuren eine automatic discharge zu. Deswegen findet die discharge by order of court gem. sect. 280 IA kaum noch Anwendung und wird nur noch von verurteilten Schuldnern beantragt, die keine automatic discharge mehr erhalten, sect. 279 (6) IA.

Die Voraussetzungen zur Erlangung einer discharge by order of court ergeben sich aus den sog. insolvency rules. Nach sect. 412 IA ist der Lord Chancellor ermächtigt, zusammen mit dem Setretary of State für die Verbraucherinsolvenz wichtige Verfahrensregeln festzulegen. Danach muss der Schuldner den Official Receiver von seinem Antrag an das Gericht benachrichtigen und einen Kostenvorschuss leisten. Der Official Receiver fertigt daraufhin einen Bericht an, in dem über das schuldnerische Verhalten, den Schuldenstand, die Umstände des laufenden und früheren Insolvenzverfahrens Auskunft gegeben wird. Dieser Bericht dient dem Gericht als Entscheidungsgrundlage. Das Gericht kann die Erteilung der discharge ablehnen, eine unbedingte discharge oder eine discharge unter Bedingungen aussprechen (sect. 280 (2) IA).

Rechtsfolgen der discharge

Die Erteilung einer discharge, sei es in Form einer automatic discharge oder als discharge by order of the court, befreit den Schuldner gem. sect. 281 (1) IA von seinen Insolvenzschulden (bankruptcy debts). Bankruptcy depts sind alle vor der Insolvenzeröffnung entstandenen Schulden sowie Schulden, die nach Eröffnung entstanden sind, wenn die rechtliche Verpflichtung hierzu vor Eröffnung entstanden ist.

Materiell-rechtlich ist die discharge eine persönliche, die gerichtliche Durchsetzung hindernde Einrede. Gesicherte Gläubiger können das Sicherungseigentum wie in Deutschland weiterhin verwerten, jedoch ist die Forderung gegen den Schuldner erloschen (sect. 89 281 (2) IA). Sicherungsgeber wie Bürgen oder Mitschuldner werden nicht von ihren Verpflichtungen befreit, sie haften weiterhin für den Schuldner (sect. 281 (7) IA). Von der Erteilung der discharge ausgeschlossen sind zudem Forderungen aus Betrug, Untreue, Geldstrafen, Buß- bzw. Ordnungsgelder, Schadensersatzansprüche wegen Personenverletzung und bestimmte familienrechtliche Ansprüche (sect. 281 (3) IA).

Widerruf der discharge

Das Gericht darf die discharge von sich aus oder auf Antrag jederzeit widerrufen oder abändern, wenn ihm neue Tatsachen bekannt werden. Dabei bedarf es nicht der Anrufung eines höherrangigen Gerichts (sect. 375 (1) IA). Das Rechtsmittel gegen die Änderungs- oder Widerrufungsentscheidung ist an den Court of Appeal zu richten (sect. 375 (2) 1A).